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Corona und die weltweite Ungleichheit

Über das neuartige Corona-Virus wurde anfangs oft gesagt, dass es ein „demokratisches“ Virus sei, weil es alle Bevölkerungsschichten gleich treffen könne: reiche und arme, arbeitende und arbeitslose, gebildete und bildungsferne Personengruppen, sie alle seien gleich gefährdet. Allerdings zeigt sich im Verlauf der Pandemie, dass - wie so oft - doch besonders die ärmeren und verletzlicheren Teile der Gesellschaft leiden. Sie trifft sowohl der Virus selbst als auch die wirtschaftlichen Folgen stärker als ihre Mitbürger. Und während Europa sich nach Wochen des „Lockdown“ bereits in einer Phase des Neustarts befindet, wirkt sich die Pandemie momentan in anderen, ärmeren Erdteilen umso gravierender aus. Aber auch in wohlhabenden Staaten sind die sozialen Ungleichheiten und ihre einschneidenden Folgen für Teile der Bevölkerung deutlich spürbar.

Lebensbedingungen im globalen Süden

Südamerika entwickelte sich in den vergangenen Wochen neben den USA zu dem globalen „Corona-Hotspot“. Das Virus breitete sich besonders stark in Brasilien aus und verursachte dort bis Mitte Juni offiziell bereits 10.000 Todesopfer mehr als in Italien. Vor allem die ca. 1 Million indigenen Ureinwohner des Landes leiden unverhältnismäßig unter der Epidemie: Ihr Immunsystem ist besonders anfällig, darüber hinaus haben sie so gut wie keinen Zugang zum Gesundheitssystem und werden von der Regierung größtenteils sich selbst überlassen. Der Virus trifft in Brasilien zudem die arme Bevölkerung, die in den berüchtigten Armenvierteln („favelas“) der Millionenstädte lebt. Dort fehlt es an nahezu allem: an sauberem Wasser, klarer Luft, genug zu essen sowie ausreichend Platz. Die Bewohner leben dort in menschenunwürdigen Verhältnissen, auf beengtem Raum, ein idealer Nährboden für das Virus. Als Folge haben sie im Vergleich zur brasilianischen Oberschicht wesentlich mehr Covid-19-Tote zu beklagen, auch weil für sie eine angemessene medizinische Behandlung außer Reichweite ist. Eine weitere drastische Situation zeigt sich in Afrika. Dort sind bereits über 230.000 Menschen infiziert und es fehlt medizinisch am Nötigsten. Durchschnittlich stehen auf dem Kontinent für 10.000 Einwohner nur 2,8 Ärzte zur Verfügung, in Europa sind es 33,8. In Mali gibt es für die 10 Millionen Einwohner nur 3 Beatmungsgeräte. In Ostafrika werden zudem ganze Landstriche von einer Heuschreckenplage heimgesucht, die zahlreiche Erntebestände vernichtet. Hilfsorganisationen befürchten, dass sich die Situation der Bevölkerung nun in Kombination mit Überschwemmungen in der Regenzeit rapide verschlechtern wird. So sind in Kenia, Somalia und Äthiopien mehr als 5 Millionen Kleinkinder von akuter Lebensmittelknappheit und sogar von Hungertod bedroht.

Wirtschaftliche Abhängigkeiten

Manche Länder des globalen Südens leiden nicht nur unter dem Virus selbst, sondern spüren zudem direkt die wirtschaftlichen Folgen des „Lockdowns“ in anderen Erdteilen. In Bangladesch beispielsweise haben mehr als 2 Millionen Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter ihre Jobs verloren, weil amerikanische und europäische Modeketten ihre Aufträge storniert haben. Sie arbeiten für eine Branche, die bereits in der Vergangenheit wegen unmenschlicher Zustände und einstürzender Fabriken für Aufsehen sorgte. Nun verweigerten die Unternehmen aufgrund der Kaufhausschließungen in den Industrieländern im Frühjahr 2020 die Bezahlung bereits gefertigter Ware. Insgesamt geht es dort um Summen von ca. 2,7 Milliarden Euro. Für die arbeitslos gewordenen Frauen und Männer hat dies lebensbedrohliche Konsequenzen, genauso wie für ihre Familien, die meist auf den Lohn der Textilfabriken angewiesen sind. Während in Europa Lohnausgleich oder Arbeitslosenunterstützung vielen Menschen in der Krise über das Schlimmste hinweghelfen, müssen die Menschen in Bangladesch (in ähnlicher Weise auch in Ländern wie Kambodscha und Myanmar) um ihre blanke Existenz fürchten. Auf internationalen Druck hin haben sich einige Unternehmen mittlerweile bereiterklärt, zumindest für bereits bestellte Ware zu zahlen.

Kriege und religiöse Konflikte

Indien ist mit 1,35 Milliarden Einwohnern nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Erde, sondern zudem von zahlreichen Ethnien und Religionen geprägt. Dies begünstigt Spannungen und auch gewaltsame Konflikte, besonders seitdem fundamentalistische Hindu seit 2014 das politische Klima beherrschen. Jetzt während der Corona-Pandemie ist die Lage noch angespannter als zuvor. Neben rasant steigenden Infizierten-Zahlen kommt es daher in vielen Teilen des Landes momentan immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerungsgruppen. Schuld daran sind unter anderem falsche Gerüchte, dass Muslime an der neuartigen Krankheit schuld seien und diese gezielt weiterverbreiten würden. Boykotte, Attacken und schwere Ausschreitungen mit zahlreichen Todesopfern waren bereits die Folge. Ähnlich gravierende Auswirkungen zeigen sich auch in dem seit 2015 von einem grausamen Bürgerkrieg gebeutelten Jemen. Das Land am Rande der Arabischen Halbinsel wurde bereits vor der Pandemie von der UNO als aktuell größte humanitäre Katastrophe eingestuft. Jetzt kommen zu den Verheerungen des Krieges, dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und den Hungersnöten noch die unbarmherzigen Folgen des sich rapide verbreitenden Virus hinzu. Insgesamt sind dort laut Hilfsorganisationen mehr als 20 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen, bis zu 80 Prozent der Bevölkerung. Sie fordern einen sofortigen Waffenstillstand sowie die dringende Aufstockung der internationalen Hilfsgelder.

Soziale Ungleichheiten

Auch in den sog. entwickelten Ländern gibt es Befunde dafür, dass die gesundheitlichen Folgen der aktuellen Krise bestimmte Bevölkerungsgruppen schwerer treffen als andere. Nicht nur ältere Personen, sondern soziale Randgruppen, armutsgefährdete bzw. vulnerable Personen weisen offensichtlich schwerere Krankheitsverläufe und sogar eine wesentlich höhere Sterberate auf. In den USA und auch in Großbritannien wurde dies bereits für Schwarze und Angehörige anderer ethnischer Minderheiten belegt. Nach offiziellen Untersuchungen haben diese mancherorts ein fast um das Vierfache erhöhtes Risiko, an Covid-19 zu sterben. Die Gründe dafür sind zahlreich, von einer generell schlechteren Gesundheitsverfassung bis hin zu einem schlechteren Zugang zu medizinischer Versorgung. So verfügen sozial benachteiligte Gruppen und Ethnien meist über einen ungesünderen Lebenswandel und sind Umweltbelastungen stärker ausgesetzt. Darüber hinaus arbeiten sie überwiegend in Branchen, die ein höheres Infektionsrisiko bereithalten (Supermarktangestellte, Pfleger, Busfahrer etc.), gleichzeitig haben sie wesentlich weniger oder keine Möglichkeiten, von zuhause zu arbeiten, oder sie haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Sars-CoV-2 ist daher mit Sicherheit kein de-mokratisches Virus.

 

Quellen:
www.spiegel.de/politik/ausland/indigene-in-brasilien-die-krankenschwester-vom-amazonas-a-4956df64-3fc1-4dbf-bab5-809aec151604
www.theguardian.com/world/2020/apr/25/rio-favelas-coronavirus-brazilwww.repubblica.it/solidarieta/emergenza/2020/05/05/news/locuste-255746731/
www.vita.it/it/article/2020/05/25/covid-19-aiutare-i-paesi-poveri-aiuta-anche-noi/155601/www.theguardian.com/global-development/2020/apr/02/fashion-brands-cancellations-of-24bn-orders-catastrophic-for-bangladesh
www.theguardian.com/world/2020/apr/13/coronavirus-conspiracy-theories-targeting-muslims-spread-in-india
www.savethechildren.it/blog-notizie/yemen-rischio-accesso-ad-acqua-e-cibo-5-milioni-di-persone
www.theguardian.com/world/2020/apr/08/its-a-racial-justice-issue-black-americans-are-dying-in-greater-numbers-from-covid-19
www.theguardian.com/world/2020/may/01/british-bame-covid-19-death-rate-more-than-twice-that-of-whites
www.apmresearchlab.org/covid/deaths-by-race

 

 


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