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„Migration: Es braucht ein verantwortungsvolles und solidarisches Europa“

Stellungnahme von Caritas-Direktor Paolo Valente zum Welttag des Flüchtlings am 20. Juni

 

Die Ungerechtigkeit in unserer Geschichte
Europa verdankt den wirtschaftlichen und technischen Aufschwung der letzten Jahrzehnte unter anderem seinem ausbeuterischem Umgang mit vielen Ländern in Afrika, Asien, Mittel- und Südamerika. Jetzt klopfen die Menschen aus diesen Kontinenten, vor allem aus Afrika und Asien, an die Pforten Europas, um dem Elend, den Kriegen und den sich wandelnden Klimabedingungen in ihrer Heimat zu entfliehen. Dabei liegen einige Wurzeln dieser Übel in den so genannten „nationalen Interessen“. Und das wird heute deutlicher denn je in Sätzen wie „America first“, „Prima gli italiani“ oder „Österreicher zuerst“.

Nationaler Egoismus
Nationalismus und nationaler Egoismus sind auf dem Vormarsch. Um den Zusammenhalt in Europa aufrecht zu erhalten, wenden sich die Regierungen stärker einem neuen „europäischen Egoismus“ zu, der aus abgeriegelten Grenzen und versperrten Häfen besteht. Die Probleme rund um die Migrationsströme werden an Staaten wie die Türkei und Libyen delegiert und dabei die grundlegenden Werte der Europäischen Union, nämlich die Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürger- und Menschenrechte (vgl. Charta der Grundrechte der Europäischen Union), links liegengelassen.

Gerechtigkeit und Aufnahme
Die Caritas als Ausdruck der christlichen Gemeinschaft und im Namen gar nicht Weniger, die keine Angst vor ihrem Nächsten haben, wünscht sich ein solidarisches Europa, das Verantwortung übernimmt, das zu Gerechtigkeit und Aufnahme fähig ist: Es soll zu Gerechtigkeit in internationalen Beziehungen fähig sein, damit die weltweiten Ressourcen gerecht verteilt werden und die Menschen anderer Länder sich nicht weiterhin gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Und es soll fähig sein, Menschen aufzunehmen, die über das Meer oder über Landwege zu uns kommen, im Bewusstsein, dass die Welt allen gehört und nicht nur einem kleinen Teil von Privilegierten.

Globale Verantwortung
Wir tragen eine “globale Verantwortung”: Papst Franziskus hat sich vor kurzem dafür ausgesprochen, dass „die Verantwortung der Weltgemeinschaft und die Zusammenarbeit im Hinblick auf die internationale Migration auf den Werten der Gerechtigkeit, der Solidarität und des Mitgefühls fußen sollen“. Dazu sei eine „Veränderung im Denken“ nötig. „Es gilt, Fremde nicht länger als Bedrohung für unseren Wohlstand zu sehen. Sie sollten wertgeschätzt werden als Menschen, die neue Lebenserfahrungen und Werte mitbringen und so zur Bereicherung unserer Gesellschaft beitragen. Deshalb sollte unsere Haltung ein Entgegengehen sein, damit wir sie aufnehmen, kennen- und schätzen lernen können“. Papst Franziskus unterstreicht, dass es bei Fragen der Migration nicht um Zahlen geht, sondern „um Menschen mit ihrer Geschichte, Kultur, Empfindungen und Sehnsüchten. Diese Menschen sind unsere Brüder und Schwestern, die Schutz brauchen, unabhängig von ihrem Status als Flüchtlinge oder Migranten. Ihre grundlegenden Rechte und ihre Menschenwürde müssen verteidigt werden“.

Das Leid der Migranten nicht instrumentalisieren
Die christliche Gemeinschaft und die Zivilgesellschaft in Südtirol wie auch in Europa haben verschiedene Möglichkeiten, den Ungerechtigkeiten entgegenzutreten, welche die Migrationsströme verursachen:
• Sie können Frauen, Männer und Kinder, die vor unmenschlichen Lebensumständen geflohen sind, angemessen aufnehmen. Das erfordert in erster Linie eine bestimmte Qualität in der Aufnahme, genügend Zeit und kongruente bürokratische Prozesse. Es bedeutet aber auch, dass die Situation jener Menschen ernst genommen wird, die weiterhin hier leben werden, auch wenn sie nicht als Flüchtlinge anerkannt werden.
• Sie können Einfluss nehmen, die Öffentlichkeit und die Regierenden sensibilisieren, damit sie Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls treffen. Das heißt auch im Hinblick auf die kommenden Wahlen, dass sie das Leid der Menschen auf der Flucht nicht instrumentalisieren und den Bürgern künstlich ein Gefühl der Unsicherheit vermitteln. Und es heißt auch, multikulturelles Zusammenleben zu fördern, das es in Südtirol, auf eine bestimmte Weise, schon immer gegeben hat.
• Den Ungerechtigkeiten kann man aber auch durch Projekte zur Entwicklungszusammenarbeit in den Herkunftsländern der Migranten entgegentreten. Dazu gilt es, die Logik des „nationalen Egoismus“ hinter sich zu lassen und allen das Recht zuzugestehen, in der eigenen Heimat leben und überleben zu können.
• Aber auch im persönlichen Alltag können kleine Veränderungen viel bewirken. Wer seine Lebensweise dahingehend ändert, dass er nachhaltige Entwicklung fördert, trägt dazu bei, Kriege, Armut und Klimawandel zu bekämpfen, welche die Migrationsströme zur Folge haben.

Von Paolo Valente, Caritas-Direktor

 

So wirkt die Caritas in Südtirol

• Die Caritas führt insgesamt 11 Flüchtlingshäuser in Bozen, Meran, Brixen, Bruneck, Mals, Ritten, Kastelruth, Vintl, Prissian und Wiesen. Sie betreut dort rund 480 asylsuchende Frauen, Männer und Kinder.
• In der Essensausgabe „Clara“ in Bozen gibt sie jeden Tag warme Mahlzeiten an 250 Nicht-EU-Bürger aus. Die meisten von ihnen haben in Südtirol um Asyl angesucht und warten auf den Ausgang des Verfahrens.
• Menschen, die sich freiwillig für Flüchtlinge engagieren, bietet die Caritas Weiterbildung und Begleitung an. Sie fördert auch die Sensibilisierung und das Zusammenleben durch Begegnungsmöglichkeiten in Schulen und Pfarreien, wobei sie auch die weltweiten Hintergründe für Migration aufzeigt.
• Menschen, die nach Abschluss des Asylverfahrens die Flüchtlingshäuser verlassen müssen, hilft sie bei der schwierigen Suche nach einer Unterkunft.
• In Bozen, Meran, Bruneck und im Vinschgau hilft die Caritas neuen Mitbürgern bei der Orientierung im Südtiroler Lebensumfeld.

 

Die Caritas beobachtet, reflektiert und wirkt
Die Flüchtlingsberatung: Mehr als 20 Jahre Beratung und Begleitung
Ein grenzübergreifender Dienst in einer Stadt nahe der Grenze

Dieser Caritas-Dienst ist seit über 20 Jahren im Einsatz und bietet Asylsuchenden soziale und rechtliche Beratung an. Besonders wichtig ist die Flüchtlingsberatung für Menschen, die außerhalb des staatlichen Aufnahmesystems nach Südtirol kommen und um Asyl ansuchen. Sie kommen aus dem Irak, Afghanistan, Nigeria, Pakistan, Somalia und anderen Ländern und haben doch etwas gemeinsam: Die Not, in der sie sich befinden, und ihre Existenz als „Unsichtbare“. Die Mitarbeiter der Flüchtlingsberatung stehen diesen Menschen während der verschiedenen Phasen des Asylverfahrens bei und informieren umfassend über ihre Rechte und Pflichten. Gleichzeitig versuchen die Mitarbeiter, eine Antwort zu geben auf die Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Nahrung, Kleidung und medizinische Versorgung. Dabei arbeiten sie eng mit sozio-sanitären Diensten zusammen. Der Beratungsdienst ist wegen der großen Zahl der Ratsuchenden aber auch eine Beobachtungsstelle für die verschiedenen Dynamiken, die in einer Stadt so nahe an der Grenze entstehen. Die Besonderheit durch die Nähe zum Brenner zeigt sich in Bozen in der Herkunft der Ratsuchenden. In den vergangenen Monaten waren es vor allem Rückkehrer aus nordeuropäischen Staaten, die sich an die Flüchtlingsberatung gewandt haben, nicht die Menschen, die das Mittelmeer überquert haben und über das staatliche Aufnahmeprogramm in die Flüchtlingszentren eingewiesen worden sind. In der Flüchtlingsberatung finden alle Rat und Hilfe, auch diejenigen, die sich im bürokratischen Netz der europäischen Normen verfangen haben und vom Norden nach Italien zurückgeschickt worden sind, weil es das Land war, das sie in Europa als erstes betreten haben. Seit Anfang des Jahres wurden 1.312 Menschen in der Flüchtlingsberatung betreut. 529 von ihnen haben sich heuer zum ersten Mal an den Caritas-Dienst gewandt. Es sind Frauen, Männer und Kinder, Einzelpersonen und Familien, denen das Grundlegendste zum Leben fehlt und die versuchen, die Regeln der Bürokratie zu verstehen, in der Hoffnung eines Tages ein Leben in Sicherheit führen zu können. Nicht alle bleiben in Bozen. Manche ziehen weiter. Wer hierbleibt, stellt zunächst einen Asylantrag und versucht, im Südtiroler Lebensumfeld zurecht zu kommen und sich hier einzugliedern. Die Mitarbeiter der Flüchtlingsberatung helfen ihnen dabei. Sie unterstützen aber auch Menschen, die nach einem negativen Entscheid über ihren Antrag in ihre Heimat zurückkehren möchten.


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