Die Unsichtbaren
Laut der letzten ISTAT-Zählung, die im Dezember veröffentlicht wurde und deren Daten sich auf das Jahr 2021 beziehen, beläuft sich die Zahl der Obdach- und Wohnungslosen in Italien auf knapp über 96.000, darunter 30.790 Frauen. Auch wenn es sich nur um eine Momentaufnahme des Phänomens handelt, die aus Informationen der Meldeämter der Gemeinden hervorgehen, stellt diese Erhebung eine wichtige Neuerung dar. So werden Menschen wahrgenommen, die sonst kaum sichtbar sind und ins Licht der Öffentlichkeit geraten – außer wenn im Winter die Temperaturen sinken oder wenn es tragische Vorkommnisse gibt. Dies gilt vermehrt für obdachlose Frauen, versteckte Figuren in einem ohnehin unsichtbaren Teil der Bevölkerung.
Wenn wir an Obdachlose denken, assoziieren wir den Zustand in der Regel mit Männern, weil sie einerseits in der Mehrzahl sind, aber auch weil dieses Bild bei der Bevölkerung als auch bei den Behörden stark verwurzelt ist. Es gibt aber auch sie, die obdachlosen Frauen; ihre Zahl nimmt sogar konstant zu. Dies beobachten auch die Dienste der Caritas: In Südtirol geraten immer häufiger auch Frauen in die Obdachlosigkeit und in soziale Notlagen.
Betroffen sind Frauen aller Altersgruppen, die meisten aber sind über 35 Jahre alt. Einige sind deutlich älter und deswegen ohne Bleibe; oft sind es aber auch Mütter, ausländische Frauen, berufstätige Frauen, arbeitslose Frauen, manche sind psychisch labil, andere mit Schulden oder Süchten überfordert. Und es sind auch alleinstehende Frauen oder solche die es geworden sind, manchmal aufgrund von Versäumnissen oder Verzögerungen seitens des Dienstleistungssystems. Die Ursachen, die dazu führen, dass Frauen in die Obdachlosigkeit abrutschen, unterscheiden sich in der Tat von denen der Männer. Oft handelt es sich um Frauen, die eine dramatische Geschichte in Form von Missbrauch und Misshandlung hinter sich haben, von denen leider hauptsächlich Frauen betroffen sind. In anderen Fällen ist es die Betreuungsarbeit, die von ihnen erwartet wird und die sie in eine wirtschaftliche Abhängigkeit vom Partner bringt (sofern es einen gibt). Niedrige Löhne typischer Frauenjobs im Reinigungs- oder Pflegebereich tragen dazu bei, dass Betroffene die Mietkosten nicht stemmen können, vor allem, wenn sie unterhaltsberechtigte Kinder haben. Hier zeigt sich, dass Frauen in Wohnungsnot spezifischere Bedürfnisse haben, die einer angemesseneren Antwort bedürfen.
Die Verletzlichen
Alle Menschen, die auf der Straße leben, sind großer Verletzlichkeit ausgesetzt. Für Frauen gilt das ganz besonders. Das Leben auf der Straße ist gefährlich und deshalb für viele oft ein Grund, in schwierigen und gewaltgeprägten Beziehungen zu bleiben, um ihr Obdach nicht zu verlieren, vor allem, wenn sie Kinder haben. Manchmal landen Frauen aber gerade deshalb auf der Straße, um der häuslichen Gewalt zu entkommen, obwohl das Sicherheitsrisiko dort für sie hoch ist. Sie versuchen deshalb nicht aufzufallen, um die Aufmerksamkeit möglicher Angreifer nicht auf sich zu ziehen. Das hat konkrete Auswirkungen auf ihre Persönlichkeit und ihr Beziehungsnetz. Das Wegbrechen sozialer Beziehungen aufgrund von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Sucht führt schnell zur Ausgrenzung; daraus zu entkommen ist schwer, besonders wenn nur geringe Mittel zur Verfügung stehen oder die Bildung auf sehr niedrigem Niveau ist. Ein weiterer kritischer Aspekt der weiblichen Obdachlosigkeit betrifft den gesundheitlichen Aspekt. Intimpflegeprodukte und Damenbinden sind zu teuer für jene, die nichts haben. Ein Kind zu erwarten, kann problematisch sein. Werden ihnen die Kinder weggenommen, kann das zur großen psychischen Belastung werden. Es kann auch zu ungewollten Schwangerschaften kommen, da es keine Schutzmaßnahmen gibt und die Frauen verstärkt sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Frauen mit Migrationshintergrund, also ausländische obdachlose Frauen – etwa ein Drittel ‒ sind in jungen Jahren stärker dem Menschenhandel ausgesetzt und aufgrund ihres niedrigen Bildungsniveaus besonders von Ausgrenzung bedroht. Es gibt auch eine große Anzahl wohnungsloser Frauen aus Osteuropa, vor allem im Zusammenhang mit ihrer Arbeit als „Hauspflegekräfte“, die sog. „badanti“, die großer Wohnungsunsicherheit ausgesetzt sind.
Dienstleistungen und Prävention
Der erste Schritt hin zu einem menschenwürdigen und sicheren Leben ist es deshalb, Menschen, die auf der Straße leben und dadurch extrem verletzlich sind, den Zugang zu einer Wohnung, zu medizinischer Versorgung und zur sozialen Wiedereingliederung zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, die Dienstleistungen für Obdachlose, die bisher vor allem für Männer entwickelt wurden, zu überdenken, um auch obdachlosen Frauen gezielte Dienstleistungen anzubieten, um der Wohnungs- und Sozialnotlage etwas entgegenzusetzen. Mit Blick auf die obdachlosen Frauen zeigen sich nämlich eine Reihe von Defiziten, die eng mit dem Geschlecht zusammenhängen. Zunächst einmal sind mehr Einrichtungen für obdachlose Frauen erforderlich. Darüber hinaus wäre es wichtig, präventive Maßnahmen zu setzen, um Notlagen rechtzeitig aufzufangen, bevor sie in Ausgrenzung münden, und die sich auf bestimmte Themen konzentrieren. Dazu gehört die Vorbeugung gegen häusliche Gewalt, aber auch Interventionen im kulturellen Umfeld, wie z.B. Projekte, die sich an gewalttätige Männer oder Familien richten, sowie die Konzentration auf Ausbildung und Kompetenzentwicklung, um eine gute Integration in die Arbeitswelt zu ermöglichen.
Die Dienste der Caritas für Frauen ohne feste Bleibe
In Italien gibt es mehr als 30.000 obdachlose und wohnungslose Frauen, ein Drittel davon sind Ausländerinnen; die meisten sind zwischen 35 und 54 Jahre alt, aber unter den Italienerinnen sind die über 55-Jährigen in der Mehrzahl. In Südtirol betreibt die Caritas die einzige Einrichtung, die sich ausschließlich um obdachlose Frauen kümmert: Im Haus Margaret waren 2022 19 Frauen untergebracht. Aber auch in den Obdachlosendiensten der Caritas in Meran und in den Caritas-Einrichtungen für Migranten, die über das gesamte Gebiet verteilt sind, sind Frauen auf dem Vormarsch: Von den insgesamt 865 im Jahr 2022 von der Caritas beherbergten Personen waren rund 200 erwachsene Frauen, davon knapp ein Viertel alleinstehende Mütter mit minderjährigen Kindern. Die meisten Einrichtungen, in denen sie aufgenommen wurden, führt die Caritas im Auftrag der öffentlichen Hand.